Wir haben ein Ende erreicht - Interview von Teresa Schaur-Wünsch aus 2019
Aktualisiert: 12. Okt.

In den Sechzigern wurde er in ein Zen-Kloster entsandt, heute liest er mit 92 die neuesten wissenschaftlichen Publikationen: Eremit und Benediktinermönch David Steindl-Rast erklärt, warum die Menschheit künftig in Netzwerken denken muss.
Sie sagen, dass Sie sich als Teil einer größeren, bewusstseinsverändernden Bewegung verstehen. Was meinen Sie damit?
Mir kommt vor, dass sich in unserer Zeit ein Bewusstseinswandel in der Menschheit und besonders in unserer Gesellschaft abspielt. Es geht darum, unsere Zusammenhänge immer mehr zu erkennen, unsere Vernetzungen. Das ist ungeheuer wichtig, weil wir mit schrecklichen Problemen konfrontiert sind, die wir nur gemeinsam lösen können. Unser jetziger Bewusstseinsstand ist noch nicht integriert genug, als dass wir wirklich gemeinsam handeln könnten.
Woran fehlt es denn?
Aus einer gewissen Perspektive könnte man sagen: Was wir heute brauchen, ist, dass die Machtpyramide, die Tausende Jahre zu unserer Kultur gehört hat, in ein Netzwerk verwandelt wird. Diese Machtpyramide ist an ihr Ende gekommen. Ich habe das Privileg, mit vielen führenden Menschen in der Wissenschaft zu sprechen, auch in der Politik. Jeder, der Einsicht hat, sagt auf seine oder ihre Weise: So geht's nicht weiter. Wir haben ein Ende erreicht. Einfach gesagt ist es so, dass wir auf dem Weg sind, uns selbst zu zerstören. Unsere Kultur und Gesellschaft und die Welt. Die, die oben an der Spitze stehen, fürchten, dass sie gestürzt werden, die, die weiter unten sind, fürchten, dass ihnen jemand zuvorkommt, da entsteht Rivalität. Unter einem Netzwerk verstehe ich nicht Gleichmacherei. Autorität wird es immer geben. Aber wir brauchen echte Autorität.
Sie selbst waren immer autoritätskritisch, in der NS-Zeit, später in Bezug auf die Kirche.
Um ein guter Christ zu sein, muss man kritisch sein. Wir sind als Propheten gesalbt, schon in der Taufe, und müssen diesen prophetischen Beruf dann auch wirklich ausüben. Propheten sind ja nicht Vorhersager, sondern Kritiker im Namen Gottes, Kritiker des Status quo.
Quelle: Die Presse, Print-Ausgabe, 17.03.2019
Foto: © Lukas Aigelsreither