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2024/01 Jetzt im Doppelbereich

Durch meinen Leib bin ich an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand. Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich  u n d   selbst.

Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.


Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.

«Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt», sagt der Dichter.[1]


Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.


Auf Reisen fällt mir das nicht schwer. Da muss ich einfach im Augenblick leben. Und Reisen wurden mir geschenkt in meinem hohen Alter ‒ zahlreicher und weiter und spannender als je zuvor.

Zugleich mache ich immer weitere Reisen nach innen in neue Gebiete des Doppelbereichs. Er ist ungeteilt und unteilbar eins. Das rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein. Meine Reisen in seine Tiefen sind nicht ein Verlassen dessen, was als Oberfläche erscheint. Nein.


In  Raum und Zeit kommt Ewigkeit zum Vorschein ‒ scheint hervor, wirft Licht auf meinen Weg. Alles, was hinter mir liegt auf diesem Weg, war notwendig, um mich genau an diese Stelle zu bringen. Alles, was vor mir liegt, ist nur von diesem Standpunkt aus erreichbar.


Rilke hilft mir zu benennen, was zu entdecken vor mir liegt. «Weltinnenraum», «das Offene», die «Mitte des Immer», das «Namenlose», letztlich die «Unbetretbarkeit» ‒ das Geheimnis. Es ist groß und einfach. Was ich dagegen rückblickend gewahre, ist schier unüberschaubar in seiner tausendfach vernetzten Vielfalt.


Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist.

T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[2] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.

Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.


Text entnommen aus der Bibliothek David Steindl-Rast OSB,

Rubrik SCHLÃœSSELBEGRIFFE: Jetzt im Doppelbereich

 Quelle: David Steindl-Rast OSB: Ich bin durch Dich so ich (2016), S. 181-184


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