Abendrot
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Selbstbildnis
Der Dichter David Whyte ist ein Freund Bruder Davids. In seinem Buch „Credo“ geht Br. David im Abschnitt „Ich glaube an Gott – Persönliche Erwägungen“ auf das Gedicht seines Freundes ein.
(Text teilw. gekürzt wiedergegeben)
„Es interessiert mich nicht,
ob es einen Gott gibt oder viele Götter.“
Br. D.:
Und warum nicht? Weil das rein theoretische Fragen sind. Dem Herzen aber geht es um Einsicht, die der Erfahrung entspringt. [...]
„Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in anderen.“
Br. D.:
Darauf kommt es also an: Ob wir jene allumfassende Zugehörigkeit kennen, die den Gegenpol darstellt zu Verlassenheit und Verzweiflung. Wir dürfen sicher sein, dass wir schon irgendwann einmal dieses All-eins-sein gefühlt haben – in einem Gipfelerlebnis, würde Maslow sagen. [...] Vielleicht war unser persönlicher Gipfel im Vergleich ein Ameisenhaufen; das spielt keine Rolle.
Es genügt jedenfalls, dass wir uns schon einmal so recht daheim gefühlt haben im All, wenn auch nur einen Augenblick lang. […] Wir dürfen das Geschenk eines solchen Augenblickes nur nicht vergessen. Sooft wir uns dankbar daran erinnern, wissen wir, dass wir „dazugehören“ und sind vor der Verzweiflung gerettet.
Das ist aber eine Haltung, die wir täglich neu erringen, täglich auf neue Art beweisen müssen. Das Leben verändert uns ja ständig, ob wir es wollen oder nicht. Es fordert uns heraus, sicher zu sein, dass der Anker hält – auch in Stürmen. [...]
„Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
‚Hier stehe ich‘.“
Br. D.:
Nur das gläubige Ich weiß, wo es steht. Nur unser wirkliches Selbst steht überhaupt. Unser kleines Ego wird nur ankerlos umhergeschwemmt. Aber es sehnt sich, „aufgehoben“ zu werden – ausgelöscht, über sich hinausgehoben ins große Selbst und dort liebend verwahrt. [...]
„Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht.“
Br. D.:
– die Sehnsucht nach dem All-eins-sein. In allem, was wir Liebe nennen, schwingt irgendwo lauter oder leiser diese Sehnsucht mit. Denn Liebe ist ja nicht nur ein Gefühl, sondern letztlich unser „Ja“ zur Zugehörigkeit, ein „Ja“, das jeder Funke unseres Geistes, jeder Herzschlag unseres Leibes ausruft. [...]
„Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere Leidenschaft
deiner unausweichlichen Niederlage.“
Br. D.:
Sooft ich es lese, trifft mich hier dieses Wort „Niederlage“ wieder wie ein Blitz. Besser gesagt, mein kleines Ich wird so vom Blitz getroffen. Mein wahres Selbst ist ja die Liebe – das große „Ja“ zum All-eins-sein. Darin aufzugehen ist Niederlage für mein Ego, aber es ist zugleich das strahlende Aufleuchten des Gläubigen Selbst – die „feurige Umarmung“, die allem Leiden, aller Sehnsucht Sinn gibt. Hier liegt auch die Antwort auf die Frage bezüglich des einen Gottes und der vielen Götter. [...]
„In dieser feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.“
Br. D.:
[...] Wann und wo hast du – ganz gleich wie flüchtig und wie bald bezweifelt oder vergessen – jene „feurige Umarmung“ erlebt, von der David Whytes „Selbstbildnis“ spricht? [...] Vielleicht wirst du darin dein eigenes Selbst abgebildet finden. Vielleicht hat der Dichter das sogar erhofft. Das Selbst, das sagen kann ICH GLAUBE AN GOTT, ist ja das große Selbst, in dem wir alle eins sind.
Selbstbildnis – David Whyte
Es interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.
Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern. Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
„Hier stehe ich“. Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht. Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere Leidenschaft
deiner unausweichlichen Niederlage.
In dieser feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.
Quelle: David Steindl-Rast OSB: „Credo“ – Ein Glaube, der alle verbindet, 2012, S. 32f.