Auch das Segnen ist ein Aspekt von Dankbarkeit. Was wir aber unter Segnen verstehen, ist weniger klar, als was wir mit Danken und Preisen meinen. In meinem eigenen Bemühen, Segnen richtig zu verstehen, stieß ich auf zwei schwierige Fragen. Die erste gab mir in meiner Schulzeit Rätsel auf. Mit der zweiten setze ich mich noch heute auseinander.
In der Schule sangen wir von „Gott, der den Segen spendet“. Damit gab es keine Probleme. Gott stand hoch über uns, und Segen war etwas, das auf uns herabfiel wie Sonnenstrahlen oder Frühlingsregen. Dann aber stolperte ich über Verse wie „Segne den Herrn, meine Seele“. Selbst „alle Tiere wild und zahm“ ruft der Psalmist auf, Gott zu „segnen“. Das kam mir verdreht vor. Sollte ich Gott segnen? Kamen nicht alle Segnungen von Gott? Waren selbst Tiger und Pudel dazu aufgefordert, zu tun, was meiner Meinung nach nur Gott tun konnte ‒ segnen?
Diese Frage muss ich eine ganze Weile mit mir herumgetragen haben. Aber eines Tages sprang mir die Antwort im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden entgegen. Es geschah auf meinem Heimweg von der Schule an einem Frühlingsnachmittag. Die Sonne hatte den ganzen Schnee von der Landstraße geschmolzen. Alle Chancen, von einem Pferdeschlitten mitgenommen zu werden, waren dahin, und so nahmen wir eine Abkürzung am Bach entlang und prüften die dünne Eisschicht an verschiedenen Stellen, während wir dahinschlenderten. Wenn man irgendwo spüren kann, welch ein Segen warme Sonnenstrahlen sein können, dann in den österreichischen Alpen nach einem langen Winter. Jedes Fleckchen Erde schien diesen Segen zu spüren. Und dann, während wir durch den aufgeweichten Boden stapften, standen wir Kinder plötzlich vor den ersten Blumen. Hunderte von Huflattichblüten schoben sich durch totes Blattwerk. Das ganze Ufer war goldgelb.
Huflattich hat seinen Namen von der Form seiner Blätter, die an einen Hufabdruck erinnern. Aber die Blätter waren noch nicht da, nur die Blüten, immer mehr von ihnen, als wir weiterliefen und herumschauten. Das war der Frühling. O ja, selbst mitten im Winter hatte es Nieswurz gegeben, Schneerosen, wie wir sie nannten. Wenn an einem sonnigen Tag zwischen zwei Schneestürmen an den Südhängen trockene Flächen auftauchten, dann suchten und fanden wir sie sofort unmittelbar unter der Schneedecke, mondweiße Blüten. Manche waren hellgrün angehaucht oder hatten rosafarbene Ränder wie Wolken beim Sonnenuntergang. Die Winterrosen, fünf blasse Blütenblätter und eine winzige Krone in der Mitte, stammten aus einer Welt ohne Jahreszeiten. Jetzt aber war Frühling. Und diese goldenen Sonnen, nicht größer als ein Pfennig, jede auf ihrem eigenen kräftigen Stamm, waren der Segen der Erde, die Antwort auf den Segen, den die Sonne herabschickte. Keine andere Blume des Jahres, nicht einmal die riesige Sonnenblume im September, würde jemals ein genaueres Abbild der Sonne bieten, als dieser erste Frühlingssegen.
Und da war meine Antwort. Nicht nötig, etwas auszuklügeln. Ich ging einfach in sie hinein, sah sie, wurde sie, und meine Augen segneten Gott. Da wusste ich, was das bedeutet. Segen gibt Segen zurück, wie ein Echo. Das ist die tiefe, die eigentliche Bedeutung von Kontemplation. Die Vorstellung des Segens verbindet den Tempel oben mit dem Tempel hier unten. Unseres Herzens umfassendste Schau zeigt uns, dass alles Geschenk ist ‒ Segen. Und die Antwort, die spontanste Handlung unseres Herzens ist das Danken ‒ Segnen.
Hier aber kommt meine zweite Frage ins Spiel. Was, wenn ich das Gegebene nicht als Segen erkenne? Was, wenn nicht Sonnenschein auf uns herabstrahlt, sondern wenn es Hagelkörner sind, die uns wie Hammerschläge treffen? Was, wenn es saurer Regen ist? Hier müssen wir bedenken, dass das eigentliche Geschenk immer Gelegenheit ist. So habe ich beispielsweise die Gelegenheit, gegen den sauren Regen etwas zu unternehmen. Ich kann mich den Tatsachen stellen, mich über die Ursachen informieren, zu ihren Wurzeln vordringen, andere alarmieren, mich mit ihnen zur Selbsthilfe, zum Protest verbünden. Nehme ich jede Gelegenheit wahr, wie sie sich anbietet, dann erweise ich mich dankbar. Meine Antwort wird jedoch nicht vollständig sein, wenn ich nicht auch die immer vorhandene Gelegenheit zu segnen und zu preisen sehe.
W. H. Auden hat mir mit seinem Gedicht „Precious Five“, besonders mit der letzten Strophe, geholfen, dies zu erkennen. „Ich könnte“, sagt Auden dort,
Find reasons fast enough
To face the sky and roar
In anger and despair
At what is going on,
Demanding that it name
Whoever is to blame:
The sky would only wait
Till all my breath was gone
Ad then reiterate
As if I wasn´t there
That singular command
I do not understand,
Bless what there is for being,
Which has to be obeyed, for
What else am I made for,
Agreeing or disagreeing?
(Schnell genug Gründe finden,/ Gen Himmel blickend aufzuschreien/ Vor Zorn und Verzweiflung/ Über das was hier vorgeht;/ Zu verlangen, dass es bei Namen nenne/ Wer dem da schuldig sei./ Der Himmel würde nur warten,/ Bis mir die Luft ausginge,/ Um dann zu wiederholen/ Als gäbe es mich nicht,/ Jenes einzigartige Gebot,/ Das mir so unverständlich ist,/ Segne, was ist, weil es ist./ Was wir befolgen müssen,/ Denn wofür sind wir sonst geschaffen,/ Ganz gleich ob einverstanden oder nicht?)
Zu segnen was ist, und das aus keinem anderen Grund als einfach weil es ist ‒ das ist unsere raison d'être; dafür sind wir als Menschen geschaffen worden. Dieses eine Gebot ist uns ins Herz geschrieben. Ob wir das verstehen oder nicht, spielt kaum eine Rolle. Ob wir damit einverstanden sind oder nicht, ändert nichts. Im Herzen unseres Herzens wissen wir es ja doch. [...] Unser Herz als ganzes ist mit der ganzen Wirklichkeit in Einklang. [...] Mit klarem Blick erkennt das Herz den letztendlichen Sinn von allem: Segen. Und mit klarem Entschluss antwortet das Herz mit dem letztendlichen Lebenszweck: Danken, Preisen, Segnen.
Quelle: David Steindl-Rast: Fülle und Nichts – Von innen her zum Leben erwachen. Herder 2013 (1983), S. 71f.