Zu einigen Aspekten des Daodejing: Die Köstlichkeit des „Unstarken“ …
- Klaus Petersen
- 12. Aug.
- 6 Min. Lesezeit

In der Praxis einer Psychotherapeutin sah ich vor ca. 30 Jahren ein (unbewusst) daoistisches Bild, das sie selbst gemalt hatte: Zwei Wesenshälften oder Fließgestalten neigten sich einander liebevoll zu, und zwischen ihren Flügelspitzen (oder was immer es war) hielten sie eine goldene Kugel.
Damals habe ich es aus frischer Lektüre heraus als die magisch-mystische „Goldene Pille“ des Daoismus gedeutet. Das ist etwas, das der Gold-Essenz unserer Alchymie recht verwandt ist, doch scheint es dort auch um die pure konzentrierte Energie, das Qi an sich, zu gehen:
Das Dao wird eins, dann zwei, dann drei, dann x-tausend (Daodejing 42): Ein Schöpfungsgedanke manifestiert sich, der es den noch formlosen Energien erlaubt, spürbare, ja sichtbare Gestalt zu gewinnen, Form anzunehmen, die Form aber auch wieder loszulassen: De. Der Grundton des Dao in der Schöpfung (Daodejing 51 in Bruder Davids Nachdichtung). Aus Erde und Himmel als Gegenüber und Tanzpaar entstehen Yin und Yang als zweihaftes Prinzip, dann tritt Qi hinzu als die Bewegung, die Yin und Yang immer wieder umspielt, durchfließt, miteinander in Verbindung bringt, ausgleicht, und die immer neuen Formen, die dabei entstehen, werden zu dem, was uns heute als die vielfältige Gestalt der Natur entgegentritt und umfängt, auch in uns selbst, als wir selbst.
Manchmal heißt es, Yin und Yang gingen aus dem Qi als dem manifest Einen hervor. So habe ich es auch einmal gelernt. Der unmittelbare Ausdruck der Vermittlung des Dao mit dem für uns geistig und stofflich Wahrnehmbaren ist für die Alten Meister des Daodejing aber De, der schöpferische Werderaum, der Grundton der Schöpfung, in dem alles immer wieder zu sich kommt, von Rolle und Form entbunden und wieder neu formatiert wird je in Verbindung mit allem anderen der Schöpfung.
Nun sind jedoch die Begriffe im Bereich des Daoismus sehr fließend und zum Teil sehr unterschiedlich zu ihrer Verwendung etwa im konfuzianischen Formenkreis. Dort wird die formgebende Kraft des De in den Tugenden verwirklicht gesehen, der Moral, die für den Daoismus Ausdruck gerade der Entfremdung vom Dao sind, nur mehr ein Notnagel („Moral als Dürftigkeit“, heißt es im Wikipedia-Artikel Daodejing) (Daodejing 38; 19). Dadurch kann es dann geschehen, das das Qi als noch einziger verbleibender lebensdynamischer Begriff an die Stelle des De wechselt. Das entspricht aber nicht der Intention des Daodejing. Wenn sich auch De und Qi oftmals fast symbiotisch nahe kommen, weswegen es durchaus einen praktischen Sinn ergeben kann, mit dem Kampfkunst-Lehrer Karl Grunick die in uns individuell existenten Lebenskräfte mit dem Begriff Ki zu unterscheiden von der Lebensenergie schlechthin als Qi, denn die Begegnungen mit diesen beiden erfordern zunächst einmal unterschiedliche Herangehensweisen / Übungsarten.
Aus der Betrachtung des stetigen Werde- und Vergehensprozesses aller Gestalt mag die „Goldene Pille“ auch für das Dao selbst stehen:
Dao ist ja kein Weg und keine Methode (auch wenn das die Grundbedeutung des Schriftzeichens ist). Das sind nur Verlegenheits- oder Zufallsnamen, so sehr es in dieser Bedeutung auch in den verschiedenen Übungswegen des Qi, oftmals mit dem Buddhismus, besonders im Zen-do (Weg des Zen), weiterlebt. Das Dao ist an sich die unbenennbare mystische Essenz allen Seins, aus der alles hervorgeht und die in allem ist. Es bedarf also keiner Suche, sondern „lediglich“ einer Gewahrwerdung meiner innersten Qualität als Ausformung des Dao in mir, wodurch zugleich ich auch mit allem anderen, das „es gibt“, verbunden bin.
Es geht darum, „gewissenhaft Zeit zu verschwenden“, damit es sich mir immer wieder kundtun kann, was eh immer (in mir) da ist (vgl. David Steindl-Rast, Vernetzung, …, 17, und eine gängige Interpretation des hebräischen Gottes-Tetragrams JHWH: „Ich bin da.“ )
Es geht um die Wahrnehmung und um eine sich aus einzelnen weisheitlich verdichteten Beobachtungen dem permanenten Schöpfungsprozess annähernde Beschreibung, Beschreibung eines Schöpfungsprozesses, in dem Yin und Yang auf und mit dem Fluss des Qi einen ständigen Tanz, manchmal auch Kampf, leben.
Durch diesen zentralen Ansatzpunkt hat der Daoismus zwar kein politisches System hervorgebracht wie der Konfuzianismus und teilweise sogar der Buddhismus, ist dafür aber umso wichtiger geworden als Annäherung an das Innere aller Lebenszusammenhänge, an ihr Herz. Er durchfließt diese Zusammenhänge und auch die politischen Systeme dem Qi gleich flexibel, weich, kaum angreifbar, sehr beharrlich.
Das wichtigste ist vielleicht die sogenannte Traditionelle Chinesische Medizin als hoch verfeinertes und individualisiertes diagnostisches Wahrnehmungssystem, in dessen Wahrnehmung des jeweils ganzen Menschen schon der Heilweg liegt. Hier treten Yin und Yang in Organpaaren auf Ebenen verschiedener Tiefen und Jahreszeitlichkeit auf, und das Qi will alle ihre Wege / Meridiane unblockiert durchlaufen können, um sie lebendig zu vernetzen.
Ähnlich geht es auch in der Kampfkunst zu: Zwar wird (z.B. im buddhistisch-daoistischen Shaolin-Kloster) durchaus und sogar hoch effizient das aktive Angreifen trainiert, doch eigentlich geht es darum, für die harte Angriffsenergie durchlässig zu werden, ihr durch weiche, bewegliche präsente Nicht-Präsenz den Ansatz zu nehmen, das Gegenüber, sodass ein Kampf letzten Endes schon im Vorwege sinnlos wird.
Und so ging es auch zu in einer Legende aus der Urzeit, als die Erde noch mit Wasser bedeckt war: Der Kranich als Repräsentant des Äußeren, des Schnellen, des Wortes, des Fortschritts sollte eine Botschaft überbringen. Doch er fand während seines Fluges keinen Ort, an dem er sich niederlassen konnte. So wäre er vor Erschöpfung gestorben -- hätten sich nicht momentweise und in gewissen Abständen einige seltsame Wölbungen aus dem Wasser erhoben: die Rücken von Schildkröten, die ruhig an ihrem Ort verharrend, das Innere, das Langsame, das Schweigend-Rezeptive, die zyklische Kraft der Essenz repräsentieren. Sie ermöglichten es dem Kranich lebendig zu bleiben, sodass er zuletzt auch seinen Auftrag ausführen konnte. Seitdem sind Kranich und Schildkröte das symbolisch-mythologische Paar des Daoismus.
Dies erzähle ich auch deswegen, weil nur z.B. in den aktuellen Diskussionen zur generativen Selbstmacht der Künstlichen Intelligenz diese oft wie ein äußeres Gegenüber auftritt, das droht, bald alles Mögliche mit uns machen zu können. Dabei werden die inneren Prozesse in einer / einem Jeden von uns völlig vernachlässigt. Der Daoismus weiß aber und lehrt dies auch praktisch: die inneren Prozesse sind, sofern sie dem in uns wohnenden Dao sich immer wieder rück-verbinden, wiewohl schwächer und scheinbar über die Zeiten immer gleichbleibend, wie aus der Zeit gefallen, doch als das Yin für den Gesamtprozess des Seins von ebenbürtiger Bedeutung. Sie dürfen nicht nur, sondern sie sollen sogar all dem Lauten und Schnellen und Wirbelnden, dem Bösen und Brutalen auch, auf Augenhöhe entgegentreten. Sie werden das auf ihre Weise tun, etwa in einem aktiv-kontemplativen Sein in höflicher Distanz oder in sprechend werdender reiner Stille. Sie werden das Böse und Bedrohliche nicht aus der Welt schaffen, doch sie werden es aus ihrer schöpfungsmäßigen Notwendigkeit heraus und mit Hilfe des Qi bis zu einem neuen Kipp-Punkt begleiten, wo ihm die als Yang angestrichene Bedeutsamkeit wieder verlorengeht ...
Das ist zugleich das Herzprinzip des Daoismus, das Wu Wei (Daodejing 57; 3; 43; 48). Nichttun. Nicht nichts tun, sondern nicht handeln, selbstwirksam in Verbundenheit sein lassen (als päd-a-gogisches Prinzip vom indigenen Bereich her eindrücklich und doch immer wieder fremdartig anmutend beschrieben von Jean Liedloff: Nicht-Handeln bewegt und schafft Vertrauen ...) - mit einem geheimen Faden zu Sokrates „Ich weiß, dass ich nicht weiß“: Nicht weiß ich nichts, aber ich weiß nicht, und das gibt jene Lassensfähigkeit - Gelassenheit - , die uns einen ganz neuen Werderaum in jedem Lebensalter neu eröffnet und Heilung ermöglicht durch das Neu-Einströmen des noch nicht bekannten Möglichen, eigentlich Werden-Wollenden aus dem Dao im De im Xĩn, dem Herzen: lateinisch Cor: Herz, Mitte, Mut: Im Nichttun bleibt nichts ungetan.
Referenzen in Dankbarkeit:
Bei der Wiedererinnerung und Zusammenführung meiner in mir verstreut herumliegenden Impressionen vom Daoismus half mir ein vierteiliges Ö1-Radiokolleg vom 16.-19.12.2024 von Günter Kaindlstorfer trotz seines so anderen Zugangs zum Spirituellen (war leider nur bis zum 18.6.2025 zugänglich).
Sehr informativ ist aber auch der gut fundierte Wikipedia-Artikel „Daodejing“.
Leider bin ich auf Übertragungen aus dem Chinesischen angewiesen. Dabei geht es mir ähnlich wie mit Qur‘án-Übertragungen: Der Text ist von einer Version zur nächsten manchmal nicht wiedererkennbar. Das scheint aber schon im Chinesischen selbst zu wurzeln und in der mystischen Qualität des Daodejing. Hinzu kommt die Sprachprägung der Übersetzer aus dem christlichen oder/und buddhistischen Lehr-Bereich, während das Daodejing nun gerade keine Lehre darbieten will. Doch selbst die hebräische und die christliche Bibel enthalten aus solchen Umständen der Prägung heraus noch manche ungeborgene Schätze. Ich denke nur an die Prozesshaftigkeit (den Fluss-Charakter), der Ha-Shem, dem Gottes-Tetragramm innewohnt, oder an den hoch-energetischen, aber ungeschiedenen Zustand der Schöpfung vor dem göttlichen Sprachakt im ersten Schöpfungsbericht Genesis 1, der als heiliger Quellraum zeitlos präsent bleibt.
David Steindl-Rast und Balts Nill, Der Fließweg. Gedanken zum Daodejing des Laozi, Innsbruck ²2024.
Lao-Tse, Tao-Teh-King. Weg-Weisung zur Wirklichkeit, herausgegeben und erläutert von K. O. Schmidt, Engelberg/CH und München 1977.
Weiters noch:
David Steindl-Rast, Vernetzung. Eine Begegnung mit Thomas Merton, Darmstadt ²2024.
Karl Grunick mit Lucas Buchholz, Entdecke deine KörperIntelligenz! Der Zugang zu deinem wahren Energiepotenzial, München ²2021 (die Sprache des Titels führt leider etwas in die Irre).
Karlfried Graf Dürckheim, Wunderbare Katze und andere Zen-Texte, Weilheim 1964, ²1970.
Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit, München 10. Aufl. 2023.






